Hexenprozesse und die Kirche – Gedenken an die Opfer
Kirchliche Stellungnahme der Ev. Lutherischen Kirche in Bayern
Hexenverfolgung
Eine Stellungnahme aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 1
Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Prof. Dr. Joachim Track
1997
Dr. Dieter Haack, Präsident der Landessynode
Vorwort: D. Hermann von Loewenich, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern | 5 |
Einleitung | 6 |
I. Stellungnahme | 7 |
II. Beiträge | |
Friedl Bär: Zur Phänomenologie des Hexenwesens | 14 |
Traudl Kleefeld: Zur Geschichte der Hexenverfolgungen 2 |
19 |
Fritz Anders: Die Hexenprozesse | 34 |
Helga von Schlenk-Barnsdorf, Jörg Haustein: Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, Stuttgart, Berlin, Köln 1990 | 62 |
Dorothea Geuthner, Wolfgang Behringer: ,,Vom Unkraut unter dem Weizen“ Die Stellung der Kirchen zum Hexenproblem | 71 |
Joachim Track: Zur historischen und theologischen Einschätzung der Hexenverfolgung und den Konsequenzen für die Gegenwart | 76 |
Regina von Haller-Beckmann: Sexismus in der theologischen Tradition | 98 |
Brigitte Enzner-Probst: Thesen zu einem anderen Umgang mit dem ,,Anderen“ | 105 |
Verfasserinnen der Bibliographie: Petra Seegets und Heidrun Munzert, Erlangen, Hexenprozesse und Hexenverfolgung Ausgewählte Quellen und Fachliteratur |
112 |
Schuldanerkenntnis der Kirche zur Hexenverfolgung (S. 7 – 13) 3
I. Stellungnahme
1. Entstehung und Absicht
1. Zur Tagung der Landessynode in Coburg (Herbst 94) ging eine Eingabe mit der Bitte ein, das unsagbare Leiden, das durch die Hexenverfolgung in den Gebieten der heutigen bayerischen Landeskirche entstanden ist, aufzuklären und entsprechende Forschungen zu unterstützen. Die Landessynode wurde auch gebeten, aufgrund der Beteiligung von lutherischen Landesherren und Reichsstädten sowie der Kirchen der Reformation eine Schuldanerkenntnis der Kirche auszusprechen.
Erste Beratungen in der Synode ergaben, dass eine eingehendere Behandlung der damit aufgeworfenen Fragen erforderlich ist. Bevor die Synode Stellung nehmen konnte, bedurfte es genauerer Informationen über die Geschichte der Hexenverfolgung, speziell in den Gebieten der heutigen bayerischen Landeskirche, und über die Rolle der (lutherischen) Kirchen und der Theologie. Ebenso war die Frage zu erörtern, welchen Sinn und welches Ziel ein Schuldanerkenntnis haben kann. Deshalb wurde zur weiteren Behandlung eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die diese Stellungnahme erarbeitet hat und aus ihrer Arbeit weiteres Informationsmaterial vorlegt.
2. Erstes Ziel dieser Stellungnahme ist die Information über die Hexenverfolgung. Es gilt sich zu vergegenwärtigen, dass es sich bei der über mehrere Jahrhunderte und ganz Europa hinziehenden Hexenverfolgung um die größte, nicht kriegsbedingte Massentötung von Menschen, vor allem von Frauen, in der Neuzeit handelt.
Das vorliegende Wort kann nur einige grundlegende Informationen zur Geschichte der Hexenverfolgung und der Rolle der Kirchen und der Theologie geben. Die bisher bekanntgewordenen Erkenntnisse aber dürfen nicht verschwiegen werden. Sie sind Erinnerung und Mahnung, im Gedenken der Opfer und des geschehenen Unrechts, für ein Reden und Handeln der Kirche, für ein Leben aus dem Glauben einzutreten, das von der frohen Botschaft von Gottes Liebe zu den Menschen bestimmt ist und sich darum unter den Menschen für das Leben, für Gerechtigkeit und Versöhnung einsetzt.
3. Die Stellungnahme will sich auch der Frage nach der Schuld von Christen und Christinnen, der Kirchen und der Theologie und der Anerkennung von Schuld in der Hexenverfolgung stellen. Wer sich mit der Hexenverfolgung befasst, erschrickt über die Rolle, die die Kirchen, auch die Kirchen der Reformation, gespielt haben. Die Hexenverfolgung geht nicht allein zu Lasten der Kirchen, aber die maßgebliche Beteiligung der Kirchen ist nicht zu leugnen. Das macht die Frage nach der Schuld unabweisbar.
4. Unser Interesse ist es nicht, den Vätern und Müttern Schuld zuzuweisen, um zu richten oder uns zu entlasten. Vielmehr geht es um ehrliche und genaue Aufklärung über die Verstrickungen, die verkehrten Wege, das schuldhafte Reden und Handeln der Kirche in der Vergangenheit, um für die Gegenwart und Zukunft, für unsere Gefährdungen, Möglichkeiten und Aufgaben zu lernen. Das Evangelium befreit uns zur Anerkennung unserer Schuld als einem Schritt auf dem Weg der Umkehr. Aus ihrer Geschichte kann die Kirche nicht austreten. In der Anerkennung von Schuld stellt sich die Kirche ihrer Verantwortung und unter die Bitte um Vergebung.
2. Zur Geschichte der Hexenverfolgung
1. Mit der Bezeichnung ,,Hexe“ (,,Hexer“) verbindet sich eine Vielzahl von Vorstellungen. In vielen Kulturen und Religionen wurden Menschen (vor allem Frauen) besondere Kräfte, besonderes Wissen, Verbindung mit dem Göttlichen und Dämonischen zugeschrieben. Damit gingen sehr unterschiedliche Vorstellungen einher: z.B. einerseits heilende Kräfte und Wissen, anderseits Schadenszauber aller Art, nächtliches Umherfliegen (mit Verwandlung in Tiere, Spuk, nächtliche Gelage und Liebesabenteuer), Wettermacherei, Wahrsagerei, Verbindung und geschlechtlicher Verkehr mit Göttern, Dämonen und dem Teufel. Meist wurde von ,,Zauberern“ und ,,Zauberei“ geredet. Die Bezeichnung Hexe wird erst im Spätmittelalter in den großen Hexenverfolgungen allgemein gebräuchlich. Durch die kirchliche Lehre (malleus maleficarum, ,,Hexenhammer“) und die staatliche Gesetzgebung wird festgestellt, was ,,Hexerei“ bedeutet: Pakt mit dem Teufel unter Abschwörung Gottes; Buhlschaft (Geschlechtsverkehr, Eheschließung) mit dem Teufel, Schadenszauber im Auftrag des Teufels, nächtlicher Flug und Teilnahme an nächtlichen Versammlungen (Hexentanz, Hexensabbat).
Diese Verbindung ursprünglich unterschiedlicher Vorstellungen (kumulatives Verständnis) im Begriff ,,Hexe“ sollte die Gefährlichkeit der Hexen aufweisen und die Notwendigkeit ihrer Verfolgung begründen.
Eine neue Verwendung des Namens ,,Hexe“, die den Begriff zum ersten Mal positiv deutet, findet sich seit den 70er Jahren im Zusammenhang der Frauenbewegung und mancher Formen der ökologischen Bewegung. Als Motive für solche Wertung lassen sich dabei erkennen: die Solidarität mit den ermordeten Frauen (Männern und Kindern) in der Hexenverfolgung, die Rückbesinnung auf die germanische Bedeutung des Wortes Hexe (hagazyssa) als ,,Zaunreiterin“, die zwischen den Welten, zwischen Rationalität und Intuition, Zivilisation und Ursprünglichkeit sitzt, der Rückgriff auf ursprüngliche, naturnahe geistige und spirituelle Quellen (neue religiöse Einbindung in den Kosmos, neue Werte), die Rückbesinnung auf die unterdrückten weiblichen Kräfte und das Wissen der Frauen (Heilung, Orientierung an der Lebensbejahung, an Ganzheit, Vernetzung). In diesem Zusammenhang erfolgt weithin eine Bejahung der heilsamen ,,weißen“ Magie und eine Ablehnung der ,,schwarzen“ Magie (Schadenszauber, Verbund mit okkulten Kräften und Mächten). Zu beobachten ist aber auch, dass in manchen Fällen die Bezeichnung „Hexe“ in ihrer neuen Verwendung in fragwürdiger Weise in Anspruch genommen wird, um sich finanzielle Vorteile zu verschaffen oder öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen.
2. Der Hexenverfolgung fielen, soweit bisher bekannt ist (vieles ist noch nicht erforscht), allein in Europa etwa 100.000 Menschen zum Opfer, meist Frauen (über 80%), aber auch Männer und Kinder.
In der Alten Kirche wurden das Festhalten an früheren Religionen (alten Kulten und religiösen Vorstellungen), die Berufung auf Zauberpraktiken und ihr Vollzug als heidnischer Aberglaube und Dämonenglaube verurteilt und mit kirchlichen Bußen (z.B. Ausschluss von der Eucharistie) belegt. Das römische Recht sah für den Schadenszauber Strafen bis hin zur Todesstrafe vor. Solche einzelne Zaubereiprozesse sind aber grundsätzlich von den Hexenprozessen zu unterscheiden.
Zu einem Wandel kam es im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert. Für diesen Wandel sind drei Faktoren ausschlaggebend: Erstens kam es in der hochmittelalterlichen Theologie (Thomas von Aquin) unter Rückgriff auf Augustins Dämonenlehre zur Entfaltung einer ,,Hexenlehre“: Ketzerei, Teufelspakt und Zauberei wurden miteinander verbunden. Zweitens wurde die ,,Inquisition“ zur Bekämpfung der Ketzerbewegungen des 13. Jahrhunderts installiert. Drittens erfolgte eine tiefgreifende Änderung im Prozessrecht. An die Stelle der üblichen Verfahren auf Klage einer Privatperson hin kam es nun zu staatlichen und kirchlichen Anklagen. Ankläger und Richter fielen in eins. Wo Zeugenaussagen (zwei Augenzeugen) fehlten, konnten ,,Geständnisse“ durch Folter ,,erzeugt“ werden.
Durch die ,,Hexenbulle“ (1484) von Papst Innozenz VIII. wurde der ,,Hexenhammer“ (1487) des zum Inquisitor bestellten Dominikanerpaters Institoris mit höchster kirchlicher Autorität versehen. Sein Ziel war es, Widerstände gegen die Inquisitionspraxis zu überwinden und die Hexenverfolgung theologisch und rechtlich zu begründen. Er trug wesentlich zur systematischen Hexenverfolgung bei, die sich bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinzog (die meisten Hexenprozesse fielen in die Jahre um 1590, 1630, 1660) und ihren Schwerpunkt in der Schweiz, in Frankreich, Deutschland, Österreich und Schottland hatte. Bis ins 18. Jahrhundert lebte der Hexenglaube weiter. Es kam immer wieder zu einzelnen Hexenprozessen. Als letzte ,,Hexe“ in Franken wurde Maria Renata Singer 1749 in Würzburg verbrannt.
3. Luthers Stellung zum Hexenglauben und zur Hexenverfolgung ist mehrdeutig. Er glaubt an die Möglichkeit eines Teufelspaktes und von Schadenszauber, aber nicht an Hexenflug. Er redet von der Macht der Zauberer und Hexen. In ihnen ist der Teufel wirksam und verführt die Menschen. Aber er betont, dass Gott der Herr ist. Auch der Teufel und die dämonischen Mächte stehen unter der Macht Gottes und werden im Glauben überwunden. Luther wendet sich gegen Hexenangst und -panik und will dagegen die Glaubenskräfte stärken. Er fordert das Einschreiten der Obrigkeit gegen abergläubische Praktiken, Zauberei und Hexerei (zum Teil einschließlich Folter und Todesstrafe), aber er spricht sich gegen Verfolgungen aufgrund von allgemeiner Hexenangst und daraus hervorgehenden Anzeigen aus. Diese mehrdeutige Haltung zeigt sich auch in der Folgezeit reformatorischer Theologie. Neben lutherischen Theologen, die die Hexenangst schüren (besonders unrühmlich im fränkischen Bereich: Nikolaus Hugo in Coburg; David Meder, zeitweise Diakon in Ansbach; Adam Francisci, Titularabt des ehemaligen Klosters Heilsbronn), gibt es auch mäßigende Stimmen, die gegen manche Hexenvorstellungen und die bedingungslose Verfolgung Stellung nehmen (z.B. Superintendent Wilhelm Lutz in Nördlingen). Diese ambivalente Einstellung hatte zur Folge, dass es auch in den protestantischen Gebieten zu Hexenverfolgungen, Hinrichtungen und Verbrennungen kam. In den protestantischen Gebieten des heutigen Frankens sind bisher etwa 200 Fälle bekannt. Die Zahl der Gefolterten, Vergewaltigten, Gebrandmarkten und Verbannten liegt um ein Vielfaches höher. Genauere historische Untersuchungen stehen noch aus. Eine bedingungslose Verfolgung, wie sie zeitweise in einigen geistlichen Fürstentümern erfolgte, wurde nicht durchgeführt.
4. Gegen die Hexenverfolgung erhoben sich immer wieder Stimmen, oft unter dem Risiko, dann selbst verfolgt zu werden. So wurde der Jurist und Rektor der Trierer Universität Dietrich Flade aufgrund seines Einspruchs gegen die Hexenverfolgung 1589 verbrannt. Der katholische Priester und Professor Cornelius Loos (ebenfalls in Trier) wurde wegen seiner Stellungnahme gegen die Hexenprozesse inhaftiert und zum Widerruf gezwungen (1592). Als erster lutherischer Theologe nahm Johannes Matthäus Meyfart (um 1630) in Coburg öffentlich Stellung gegen die Hexenmacherei und die Grausamkeit der Folter. Johann Valentin Andreae (1586-1654) verwarf die Verbrennung als Strafe für die Hexerei. Eine erste Wende brachte die Schrift ,,Cautio criminalis“ (1631) des Jesuiten Friedrich von Spee mit ihrer These: ,,Die Folter macht Hexen“. Der Durchbruch kam durch den in Halle lehrenden Juristen und Philosophen Christian Thomasius (1655-1728), der eine deutliche Trennung zwischen weltlicher Gerichtsbarkeit und kirchlicher Auseinandersetzung mit Ketzern forderte und den Hexenglauben im Wesentlichen für Aberglauben hielt. Der Widerstand gegen die Hexenprozesse aus juristischen, theologischen und philosophischen Gründen wuchs, aber es dauerte noch ein Jahrhundert, bis der Wahn vorüber war.
Hinter dieser nüchternen Darstellung der Geschichte der Hexenverfolgung verbergen sich unendlich viel Leid der Opfer und ihrer Angehörigen, grausamste Folterpraxis und unmenschliche Hinrichtungen. Erschreckend sind die Täter, die ihr Unrecht nicht sehen konnten oder wollten, die glaubten, dem Recht und der ,,guten Sache“ zu dienen, die von Angst getrieben wurden oder das bestehende (Un-) Recht für ihre Ziele ausnützten.
5. Einsichten und Aufgaben
1. Die Ungeheuerlichkeit der Hexenverfolgung lässt sich letztlich nicht erklären. Möglich ist es nur, einige Gründe aufzuführen. Als Konsens in der Forschung zeichnet sich ab, dass es nicht einen Grund gibt, sondern viele Gründe und Motive zusammenwirkten (je nach Interpretationsansatz und Interessenlage werden diese Gründe unterschiedlich gewichtet):
Grundvoraussetzung ist der Glaube an Zauberei, Hexerei, der Pakt mit dem Teufel und die damit verbundene Macht. Eine entscheidende Rolle spielt die Sicht und Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft (ihre ,,Minderwertigkeit“ gegenüber dem Mann, die den Frauen zugeschriebene Nähe zu Verführbarkeit [Sünde] und geheimer irrationaler Macht, die damit insgesamt verbundene Leibfeindlichkeit und Sicht der Sexualität als besonderem Ort der Gefährdung). Wirksam ist in sozialpsychologischer Hinsicht das Zerbrechen und der Wandel von Ordnungen, die daraus sich ergebenden Ängste vor der unüberschaubaren und unerklärlichen Gegenwart und Zukunft (Katastrophen, Missernten, politische Umwälzungen, soziale Veränderungen). Ein verbreitetes Mittel, dem zu begegnen, ist die Rückkehr zu alten einfacheren Vorstellungen („Fundamentalismus“), die ,,Lösung“ über ,,Sündenböcke“, die Ausgrenzung des bedrohlichen ,,Anderen“. Die Wandlungen im Rechtsverständnis und die damit entstandene Rechtsunsicherheit öffnen immer gegenwärtigen menschlichen Verhaltensweisen (Verleumdung, Neid, Bereicherungsversuchen) die Tür. Die theologische Deutung der Hexerei und der Herrschaftsanspruch der Kirche, ihre ,,Wahrheit“ mit kirchlicher und staatlicher Gewalt durchzusetzen, haben die Hexenverfolgung in Gang gesetzt. Im Zuge der Konfessionalisierung erfolgte auch eine Disziplinierung überkommener ,,religiöser“ Vorstellungen. Im Bereich der eigenen Konfession sollte – mit unterschiedlichen Mitteln – bestehender Aberglaube des ,,Volkes“ überwunden werden.
2. Die Beteiligung reformatorischer Theologie und Kirchen an der Hexenverfolgung ist unübersehbar. Obwohl die reformatorische Theologie, gegründet in der befreienden Erfahrung von Gottes rechtfertigendem Handeln in Jesus Christus, neu die frohe Botschaft erschlossen und auch in den hier berührten theologischen Fragen neue Wege gewiesen hat (Stellung und Sicht der Frau, Verhältnis von Sünde und Sexualität, Wertung von Magie und Aberglaube, Trennung von geistlicher und weltlicher Macht), sind diese Einsichten in der Frage der Hexenverfolgung nicht zum Durchbruch gekommen. Zwar hat es einige Relativierungen der Hexenvorstellungen und der Verfolgungspraxis der Inquisition gegeben, aber man setzt zur Überwindung von Hexerei und Zauberei nicht nur auf den Glauben, sondern auch auf die Verfolgung durch staatliche Macht, die hier ,,Ordnung“ schaffen soll. Es bleibt bei der Unterordnung der Frau und Vermutungen über ihre „Verführbarkeit“ und ,,Verführungskünste“, der Sicht der Sexualität als bevorzugtem Anlass zur Sünde. Es bleibt bei der Sorge vor Selbstentfaltung als einem Leben aus eigener Kraft und Gerechtigkeit und nicht aus dankbarem Vertrauen zu Gott.
3. Auch wenn es Widerstände gegen die Hexenverfolgung um des Evangeliums und der Menschlichkeit willen gegeben hat, ist doch, aufs Ganze gesehen, auch durch die Theologen und die Kirchen der Reformation Anstiftung zur Hexenverfolgung, Beteiligung an der Hexenverfolgung und das Geschehenlassen von Hexenverfolgungen erfolgt. Mit Schmerz und Trauer müssen wir darum feststellen, dass die Kirchen der Reformation, aus denen unsere Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hervorgegangen ist, in der Hexenverfolgung schuldig geworden sind. Solche Einsicht führt in der Solidarität der Schuld zur Bitte um Vergebung vor Gott und den Menschen und nimmt uns für Gegenwart und Zukunft in die Verpflichtung.
4. Die gewonnenen Einsichten verpflichten die Kirchen, alle Christinnen und Christen, ihre Sicht der Frau, des Verhältnisses von Mann und Frau, ihre Sicht von Leiblichkeit und Sexualität zu überprüfen und den Prozess des Umdenkens zu fördern. Ein dem Evangelium entsprechendes Verständnis ist zu entfalten, in der kirchlichen Praxis umzusetzen und in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. In gleicher Weise gilt dies für das Verständnis von Sünde, den Umgang mit erfahrenen Begrenzungen und Verletzungen des Lebens, mit erfahrenem Leid und Bösem. Das Evangelium befreit Männer und Frauen davon, „Sündenböcke“ zu suchen, andere zu ,,opfern“, um sich zu beruhigen oder zu rechtfertigen. Im Vertrauen auf die Zusage der Vergebung können wir nach eigener Schuld fragen und Schritte der Umkehr tun. Erfahrene Liebe Gottes lädt uns ein und befähigt uns, dem Leben, der Gerechtigkeit und dem Recht zu dienen und Versöhnung zu schaffen. Der christliche Glaube sucht Einverständnis und will deshalb seine Wahrheit nicht mit Gewalt, in welchen Formen auch immer, durchsetzen. Er verurteilt das ,,Andere“ und ,,Fremde“ nicht, sondern fragt nach dessen Wahrheit und stellt sich dem kritischen Dialog.
Konkret bedarf es weiterer Forschungsarbeit an der Geschichte der Hexenverfolgung und der Information über dieses Geschehen, seine Hintergründe und Folgen. In der Annahme unserer Vergangenheit werden wir frei, unsere Verantwortung in der Gegenwart wahrzunehmen.
Bezugsquelle:
Die 120-seitige Stellungnahme der Evang. Lutherischen Landeskirche in Bayern ist beim Büro der bayr. Landessynode erhältlich:
Meiserstr. 11, 80333 München, Tel. 089-5595/245
1 Landessynode: Hexenverfolgung. Eine Stellungnahme aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, 1997. Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Prof. Dr. Joachim Track. Erhältlich im Büro der bayr. Landessynode: Meiserstr. 11, 80333 München, Tel. 089-5595/245.
An dieser Stelle veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Track. ↑
2 Traudl Kleefeld: Zur Geschichte der Hexenverfolgungen, insbesondere in Franken und im Hinblick auf die Beteiligung lutherischer Geistlicher und Landesherren. In: Landessynode, S. 19-33. ↑
3 Die vorliegende Stellungnahme wurde von der Arbeitsgruppe einstimmig verabschiedet. Für die Texte der folgenden Referate zeichnen die Autorinnen und Autoren selbstverantwortlich. ↑